Thomas merton - herbstfluten
Die Herbstfluten waren gekommen. Tausende wilder Sturzbäche ergossen sich reißend in den Gelben Fluss. Er stieg an und überflutete seine Bänke bis man, schaute man hinüber, auf der anderen Uferseite einen Ochsen nicht von einem Pferd unterscheiden konnte. Da lachte der Flussgott, erfreut bei dem Gedanken, dass all die Schönheit der Welt in seinen Besitz übergegangen war. Also schwang er sich flussabwärts, bis er zum Ozean kam. Dort schaute er hinaus über die Wellen zum leeren Horizont im Osten und sein Gesicht sank. Während er auf den fernen Horizont starrte, kam er zur Besinnung und raunte dem Gott des Ozeans zu: „Nun, das Sprichwort stimmt. Derjenige, der hundert Erkenntnisse hat, denkt, er wisse mehr als jeder andere. Ein solcher bin ich. Doch jetzt sehe ich, was gemeint ist mit Weite!“
Der Gott des Ozeans antwortete:
„Kannst du über das Meer sprechen
Mit einem Frosch in einem Brunnen?
Kannst du über das Eis sprechen
mit Libellen?
Kannst du über den Lebensweg sprechen
Mit einem Doktor der Philosophie?
„Von allen Wassern der Welt
Ist der Ozean das größte.
Alle Flüsse fließen dorthin
Am Tag und in der Nacht;
Er ist niemals gefüllt.
Er gibt seine Wasser zurück
Am Tag und in der Nacht.
Er ist niemals geleert.
In Trockenzeiten
Sinkt er nicht.
In Flutzeiten
Steigt er nicht.
Größer als alle anderen Wasser!
Es gibt kein Maß, um zu sagen,
Um wie vieles größer!
Doch bin ich stolz darauf?
Was bin ich unter dem Himmel?
Was bin ich ohne Yang und Yin?
Verglichen mit dem Himmel
Bin ich ein kleiner Stein,
Eine niedrige Eiche
Am Berg:
Soll ich so tun
Als wäre ich etwas Besonderes?“
Von allen Arten, die existieren (und es sind Millionen), ist der Mensch nur eine. Unter den Millionen von Menschen, die auf der Erde leben, sind die zivilisierten Menschen, die von der Landwirtschaft leben, nur eine kleine Gruppe. Kleiner noch ist die Zahl derer, die ein Amt inne haben oder über ein Vermögen verfügen, die mit dem Wagen reisen oder mit einem Boot. Und von diesen, ist ein Mann in seinem Wagen nicht mehr als die Spitze eines Haares auf der Flanke eines Pferdes. Warum also all die Aufregung um großartige Menschen und großartige Ämter? Warum all die Streitgespräche der Gelehrten? Warum all das Gezänk der Politiker?
Es gibt keine festen Grenzen
Die Zeit steht nicht still.
Nichts hat Bestand
Nichts ist endgültig.
Du kannst nicht festhalten
Weder am Ende noch am Beginn.
Der Weise sieht nah und fern
Als dasselbe,
Verachtet weder das Kleine
Noch schätzt er das Große:
Wo sich alle Normen unterscheiden,
Wie könnte man dort vergleichen?
Mit einem Blick
Erfasst er Vergangenheit und Gegenwart,
Ohne Trauer um die Vergangenheit
Und ohne Ungeduld mit der Gegenwart.
Alles ist Bewegung.
Er hat Erfahrung
Mit Fülle und mit Leere.
Er erfreut sich nicht am Erfolg
Und klagt nicht über das Scheitern
Das Spiel ist niemals aus
Geburt und Tod sind gleich.
(Thomas Merton - Der Weg des Chuang Tse.
(c) Abbildung: Thomas Merton Center, Louisville, Kentucky, USA)