Paul scheidegger: Tat tvam asi
Ich wache auf. Seltsam, ich bin doch in meinem Bett eingeschlafen. Jetzt liege ich unter einem kleinen Baum im Gras. Wie bin ich hierhergekommen? Viel¬leicht schlafe ich noch und träume. Aber die warme Erde und das Gras lassen sich anfassen – und ich tra¬ge ein fremdartiges, farbiges Gewand. Rasch schließe ich die Augen und will zurück in den Schlaf. Wenn nur nicht diese starken Gerüche wären, unbekannt und beängstigend. Zudem sind jetzt Stimmen zu hören, die eine seltsame Sprache sprechen. Behutsam setze ich mich auf und schaue mich um. Eine kleine Quelle entspringt bei den Wurzeln des kleinen Baums und fließt als feines Rinnsal ins Tal. Das Wasser ist frisch und stillt meinen Durst. Über mir im Bäumchen hän-gen rundliche, gelbe Früchte. Vorsichtig koste ich diese – sie schmecken angenehm erfrischend. Lang¬sam stehe ich auf und folge dem Lauf des Wassers ins Tal hinab. Die Menschen in ihren weiten Gewän¬dern scheinen mich nicht zu beachten. Weit unten, in einem weißen Haus, steht eine Türe offen. Eine Treppe führt tief hinunter in einen erleuchteten Gang. Von der anderen Seite, von weit her, kommt mir eine Gestalt entgegen. Unvermittelt pralle ich gegen eine Scheibe aus Glas. Die Gestalt auf der anderen Seite hebt den Kopf und schaut mich erschrocken an. Das bin ich.
(Aus: Paul Scheidegger - Die verborgene Seite, erscheint am 27.11.2025)